Wann und wie Sie Umgangsformen brechen dürfen


Sie kennen den Spruch "Wer die Form kennt, darf sie brechen". Doch wie ist diese Aussage zu verstehen? Wann ist es geduldet, toleriert oder sogar besonders höflich, die klassischen Regeln zu brechen? Und wann nicht? 

Flexible Umgangsformen statt starre Regeln

Die sinnvollen, hilfreichen gesellschaftlichen Regeln wünschen sich heute viele Menschen wieder zurück, allerdings in neuer, entstaubter und angepasster Form: Kaum jemand sehnt sich wieder die Zeiten herbei, in denen eine Selbstvorstellung anrüchig und nur im Rahmen eines Antrittsbesuchs möglich war, Damen im Restaurant grundsätzlich nur Karten ohne Preise erhielten (sofern sie überhaupt welche erhielten) und das einzige ausnahmslos akzeptierte Small-Talk-Thema das Wetter war.

Die modernen Anforderungen an gute, befolgenswerte Umgangsformen sind hoch

  • Umgangsformen sollen das tägliche Miteinander einfach und verständlich regeln, so wie ein Straßenschild den Verkehr regelt.
  • Umgangsformen sollen nachvollziehbar und praxistauglich sein und nicht zum Selbstzweck werden.
  • Umgangsformen sollen niemandem schaden.
  • Umgangsformen sollen werteorientiert sein, die Achtung vor dem gegenüber und vor sich selbst wahren und fördern.

Nicht in jeder Situation werden Sie Standardregeln diesen hohen Ansprüchen gerecht. Manchmal müssen Sie die gängigen Umgangsformen erweitern und flexibel handhaben, um respektvoll und höflich zu handeln.

Wann ist ein Fauxpas kein Fauxpas? - Beispiele aus der Praxis lesen Sie in Der große Knigge im Kapitel U57 "Umgangsformen, Regelbrüche".

Aber bitte verstehen Sie den heutigen Tipp nicht falsch: Er ist kein Freibrief, mit dem sämtliche Umgangsformen und Regeln über Bord geworfen werden können. Doch manchmal - vielleicht in zehn oder 20 Prozent der Fälle - helfen Ihnen die klassischen Regeln nicht weiter. Und nur für solche Situationen ist dieser Tipp gedacht.

Wann sind - aus Rücksicht auf den anderen - Ausnahmen von den üblichen Regeln für Umgangsformen vertretbar?

RegelSituation vertretbare Ausnahme
(Ehe)Paare werden am
Tisch getrennt platziert,
damit sie sich nach dem
Abend gegenseitig etwas
zu erzählen haben.
Sie laden ein Paar ein,
das frisch verliebt ist
und eine Fernbe-
ziehung führt. 
Sie setzen dieses Paar neben-
einander oder zumindest gegen-
über, da die beiden nur wenig
Zeit miteinander verbringen
können.
Der Smoking wird
generell erst am Abend
(nach 19 Uhr) getragen. 
Ein Hochzeitspaar gibt
den Kleidungsvermerk
"Smoking" vor, obwohl
die Hochzeit bereits am
Nachmittag beginnt.
Das ist der Tag des Brautpaars:
Sie drücken beide Augen zu und
erfüllen den Gastgebern den
Wunsch. 

Regelbrüche, die keine sind

Beispiel Gastronomie: Viele Selbstständige freuen sich über Trinkgeld. Die Etiketteregel lautet jedoch: Chefs bekommen kein Trinkgeld. Gilt aber ein Selbstständiger, der keine oder nur einen Angestellten hat, als Chef? Und kennt der die Regel, dass Chefs kein Trinkgeld bekommen überhaupt?

Fast für alle Regeln gibt es Ausnahmen. Viele Beispiele lesen Sie Der große Knigge im Kapitel U57 "Umgangsformen, Regelbrüche" auf Seite 7.

Knifflig: Ist es ein Fauxpas, eine Regel zu brechen, die Ihr Gegenüber wahrscheinlich gar nicht kennt? Und gilt jemand, der zwar sein eigener Boss ist, aber keine oder nur einen Angestellten hat und vielleicht gerade so über die Runden kommt als Chef?

Regelbrüche von Umgangsformen, die niemand bemerkt und die niemanden interessieren, müssen Sie nicht thematisieren. Gebe ich also dem Chef des kleinen italienischen Restaurants um die Ecke ein Trinkgeld und er freut sich, freue ich mich auch. Entdecke ich im Blick eines Chefs oder einer Chefin ein kurzes Zögern, kann ich meine Regelkenntnisse der Umgangsformen mit einem kleinen Satz immer noch unter Beweis stellen.